Vortrag und Diskussion mit Irene Giner-Reichl
Auf Initiative des Alumni-Vereins des BG/BORG St. Johann fand bei freiem Eintritt ein Vortrag von Irene Giner-Reichl, der früheren österreichischen Botschafterin in Peking, statt. Im Rahmen ihres Vortrags unter dem Titel „China und die EU – Beziehung in schwierigen Zeiten“ nahm die Alumna des Gymnasiums Stellung zu aktuellen Entwicklungen. Der Beginn und die anschließende Fragerunde wurden von zwei Schülerinnen der 7. Klasse des Sprachenzweigs moderiert.
Die Beziehungen zwischen der EU und China sind vielfältig. In manchen Bereichen, wie im Handel oder auch bei globalen Fragen wie dem Klimawandel, sind sie wichtige Partner. In anderen Bereichen tritt immer mehr in den Vordergrund, dass die EU und China rivalisierende Gesellschaftsmodelle und Prioritäten für die internationalen Beziehungen vertreten. Die Diplomatin Irene Giner-Reichl, die ihr Weg durch verschiedene staatliche Institutionen, Staaten und ihre Tätigkeit bei der UNO geführt hat, gab letzte Woche einen eloquenten Überblick über die zentralen Entwicklungsschritte Chinas. Ihre Gesamtschau ging dabei besonders auf die großen wirtschaftlichen und politischen Zäsuren der globalen sowie chinesischen Zeitgeschichte ein – China, die einstige „Werkbank Europas“, hat nun nach den USA den Status der zweitgrößten Weltmacht erreicht. Irene Giner-Reichls Vortrag schuf gleich mehrere „Aha“-Momente, wenn man die europäische Perspektive verließ und die Bedeutung und Größe Chinas tatsächlich realisierte. So geschehen etwa durch das Beispiel der Shanghai Cooperation Organisation, die der Durchschnittsbürger nicht kennt und die sich mit Wirtschafts- und Handelsfragen von China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan befasst. Auf diese Weise vertritt die Organisation 40% der Weltbevölkerung oder umgerechnet 3,3 Milliarden Menschen.
Deutlich wurde an diesem Abend, wie wenig man gerade über die Mentalität und das alltägliche China weiß. Das Gefühl eine Kultur bzw. einen Staat in verschiedenen Bereichen vorverurteilt zu haben, wurde an manchen Stellen bewusst. Im Gegenzug schufen die Ausführung der Diplomatin einen neuen Blick auf die verschiedenen Perspektiven, auf Basis derer man die Welt und das Wirken eines Staates beurteilen kann. So erklärte sie etwa, dass für die chinesische Bevölkerung wirtschaftliche und soziale Rechte einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen als politische Freiheitsrechte, die für viele Menschen in Europa von großer Bedeutung sind. Gleichzeitig ist das Vertrauen vieler Chines*innen in die Regierung um ein Vielfaches höher als etwa in Österreich, das Gemeinwohl steht dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dem Großteil der Bevölkerung ist es wichtig, die Vorgaben der Regierung umzusetzen und somit die Ziele des Staates persönlich zu unterstützen. Augenscheinlich war auch ihr Beispiel dazu: Im Vorfeld der olympischen Winterspiele gab die Regierung das Ziel vor, dass 300 Millionen Chines*innen Skifahren lernen – für Europäer*innen eine seltsam anmutende Forderung, für China inzwischen ein erreichtes Vorhaben.
Besonders interessiert waren gerade auch die jungen Menschen im Publikum am Werdegang der Diplomatin. Den Posten einer Botschafterin kann man nicht direkt erreichen, man muss dazu das Auswahlverfahren für den höheren auswärtigen Dienst bestehen und sich nachher in dessen Rahmen verdient machen, um letztendlich Botschafter*in werden zu können – ein Kriterium ist dafür entscheidend: Man hat kein Recht auf einen bestimmten Einsatzort. Die Bereitschaft, jederzeit überall eingesetzt zu werden, muss also auch zur eigenen Persönlichkeit passen. Der ständige Ortswechsel zählt für Irene Giner-Reichl dabei auch zu den größten Herausforderungen des Berufs, da man Freundschaften und Beziehungen kaum lange aufrechterhalten kann und immer wieder ein komplett neues soziales Umfeld aufbauen muss.
Die Schüler*innen formulierten auch kritische Fragen, so etwa zum Thema Klimaschutz und Gender Equality im Reich der Mitte. Irene Giner-Reichl nahm zu jeder Frage ausführlich Stellung und erklärte etwa, dass das Thema Umweltschutz gerade bei der chinesischen Mittelschicht – der einzigen wachsenden weltweit – einen immer größeren Stellenwert einnehme. Während dieses Thema in vergangener Zeit zu Gunsten des wirtschaftlichen Wachstums zur Seite geschoben wurde, gibt die Regierung dem Druck aus der Bevölkerung nach. Geplant sind große Ziele, so will der Staat etwa bis 2060 klimaneutral sein.
Der Abend überzeugte das Publikum durch eloquent vorgetragenes, beeindruckendes Fachwissen, individuelle Ansichten einer erfahrenden Diplomatin sowie die Begegnung verschiedener Generationen durch den jugendlichen Teil der Zuhörer*innen.